Geschichte

Martin Luther und der Antichristus


Luthers Prophetieverständnis hat noch heute weitreichende Konsequenzen

Dennis Pettibone
Professor für Geschichte an der Southern Adventist University (USA)

In einer Zeit warmer, ökumenischer Erinnerungen an das Zweite Vatikanum erscheint Luthers Deutung des Papsttums als der biblisch vorhergesagte Antichristus vielen engstirnig, extrem und sogar unchristlich. Seine Sicht, die bis vor Kurzem noch von einem breiten Spektrum konservativ-evangelikaler Protestanten geteilt wurde, wird nun von manchen Gliedern der Kirchen, die diese Interpretation weiterhin vertreten, als peinlich empfunden. Es ist gesellschaftlich nicht mehr akzeptabel, im Papsttum die Erfüllung einer Reihe von Prophezeiungen über eine mächtige geistliche Diktatur zu sehen.

Luthers Deutung erscheint heute vielen extrem und sogar unchristlich.

Selbst der US-Kongress hat öffentlich Stellung genommen. Im Jahr 2000 verurteilte er in einer gemeinsamen Erklärung die Bob-Jones-Universität dafür, dass sie diesen Standpunkt lehrt. Die Politiker, die diese Erklärung verabschiedeten, waren sich wahrscheinlich nicht bewusst, dass sie gerade die historischen Fundamente des Protestantismus aushöhlten.

Wenn der Protestantismus seine Existenz gerade der Überzeugung Luthers verdankt, dass das Papsttum der Antichristus ist, dann könnte es lehrreich sein zu fragen, was ihn zu diesem Schluss geführt hat. Tatsächlich verfestigte sich diese Sichtweise bei ihm nur langsam und zögerlich, angetrieben von historischen Umständen und theologischen Überlegungen.

Es ist wichtig, sich dabei vor allem auf Luther zu konzentrieren, weil es seine Haltung zu dem Thema war, die die protestantische Reformation auslöste. Dennoch ist festzuhalten, dass er bei Weitem nicht der Erste mit diesem Verständnis war. Er selbst hielt Jan Hus für den Ersten, der den Papst Antichristus genannt hatte (Pelikan / Lehman [Hg.], Luther’s Works, Bd. 13, S. 417). Hus hielt in der Tat den Papst für den Antichristus, doch war auch er nicht der Erste, ebenso wenig wie sein Mentor John Wyclif, auch wenn er und zumindest einige seiner Lollarden-Anhänger einschließlich Sir John Oldcastle derselben Überzeugung waren. Die Ansicht zirkulierte auch unter Waldensern, Albigensern und Fratizellen, einer Gruppe von Franziskanern, denen die Anordnungen von Franziskus wichtiger waren als päpstliche Autorität.

Doch bereits im Jahr 991 hatte Bischof Arnulf von Orléans mit Blick auf Mord, Lust und Intrigen der Päpste die Frage gestellt:

Wer könnte ernstlich behaupten, des Herrn Priester in aller Welt müssten ihre Gebote von solchen Ungeheuern der Schuld empfangen? (Philip Schaff, History of the Christian Church, 4:290f.)

Wenn eine sittlich so niedrigstehende Person auf dem päpstlichen Thron sitze, so Arnulf, müsse sie wohl „der Antichristus sein, ‚der sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst als Gott ausgibt‘“ (ebenda).

Als Luther seine 95 Thesen aufstellte, betrachtete er Jan Hus noch als Ketzer.

Martin Luther waren die früheren Angriffe auf das Papsttum vermutlich unbekannt, als er 1517 seine 95 Thesen aufstellte, aber selbst wenn er sie gekannt hätte, hätte er sie abgelehnt. Zu jener Zeit betrachtete er Jan Hus noch als Ketzer. Er hatte nicht das Papsttum im Visier, sondern einen gierigen Dominikaner-Mönch namens Johann Tetzel, der die katholische Lehre durch übertriebenes Werben für Ablässe pervertierte. Luther dachte nicht daran, die Kirche zu spalten; er wollte bloß seine Gemeindeglieder schützen.

Tetzel meldete die Vorkommnisse wutentbrannt nach Rom. Dies stieß eine Kette von Ereignissen an, und schließlich wurde Luther vor einen päpstlichen Vertreter geladen. Es führte auch zu einem theologischen Angriff auf Luthers Position durch Kardinal Sylvester Mazzolini (Prierias), den Cheftheologen am päpstlichen Hof. Mazzolini schrieb:

Wer mit Blick auf die Ablässe sagt, die römische Kirche dürfe das nicht tun, was sie tatsächlich tut, der ist ein Ketzer. (Heiko A. Oberman, Luther: Mensch zwischen Gott und Teufel, 244)

Damit hatte Mazzolini eine Verfahrensfrage zu einer Autoritätsfrage gemacht.

Infolge der päpstlichen Vorladung reiste Luther nach Augsburg, um vor dem Papstlegaten Kardinal Thomas Cajetan zu erscheinen, der Luther zum Widerruf aufforderte. Als Luther um eine biblische Begründung bat, erhielt er keine. Rom hatte angeordnet, Luther festzunehmen, sollte er nicht widerrufen wollen, doch Luther wusste um das Schicksal von Jan Hus und entkam einer Verhaftung, indem er Augsburg in der Nacht des 16. Oktobers 1518 heimlich verließ.

Erste zögerliche Schritte

Luther hatte Mazzolinis Erklärung päpstlicher Unfehlbarkeit gelesen und erlebt, wie Cajetan auf Traditionen pochte, eine biblische Diskussion verweigerte und indirekt mit Gewalt drohte. Jetzt ging er dem Gedanken nach, ob diese Männer nicht Diener des Antichristus sein könnten. Am 18. Dezember 1518 schrieb er an Wenzeslaus Linck, der bald darauf Staupitz’ Nachfolge als Vikar des deutschen Augustiner-Ordens antreten sollte, und bat anhand einiger Schriften Luthers um die Bewertung seines aufkeimenden Verdachtes, Rom könnte das Zentrum des wahren Antichristus sein.

„Ich weiß nicht, ob nicht etwa der Papst der Antichrist ist oder sein Apostel.“

Einige Monate später schrieb Luther an seinen Freund und ehemaligen Studenten Georg Spalatin, Kaplan und Schreiber des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, er habe in Vorbereitung auf die Disputation in Leipzig päpstliche Erlasse studiert, und fügte an:

… (ich sage es Dir ins Ohr), ich weiß nicht, ob nicht etwa der Papst der Antichrist ist oder sein Apostel. So abscheulich (das ist die Wahrheit) wird von ihm durch seine Dekrete Christus entstellt und gekreuzigt. (Kurt Aland [Hg.], Luther Deutsch, 10:57)

Bei der Leipziger Debatte mit Johann Eck im Juli 1519, auf die Luther sich vorbereitet hatte, vertrat Luther den Standpunkt, sowohl Päpste als auch Kirchenkonzile seien fehlbar, und betonte, alles müsse dem Urteil der Heiligen Schrift unterstellt werden. Bald sollte er anhand der Bibel dem Papst das Urteil sprechen.

Im folgenden Jahr erfuhr Luther zwei Dinge, die seine Zurückhaltung schwinden ließen, den Papst Antichristus zu nennen. Zuerst las er im Februar 1520 Lorenzo Vallas Enthüllung, dass die Konstantinische Schenkung – das Dokument, mit dem Rom seine Vorherrschaft in der westlichen Welt begründete – eine Fälschung war. Dies gab offenbar Anlass zu einem zweiten Brief an Spalatin vom 24. Februar 1520:

Ich bin so beunruhigt, dass ich fast nicht zweifle, dass der Papst recht eigentlich der Antichrist ist, den nach der allgemeinen Meinung die Welt erwartet; so sehr stimmt alles dazu, was er lebt, tut, redet und anordnet. (S. 75)

Nach der Lektüre von Vallas Abhandlung begann Luther, anfangs zögerlich, öffentlich zu sagen, was er bisher privat an Freunde geschrieben hatte. Augustin von Alveldt war ein Leipziger Mönch, der behauptete, die totale päpstliche Kontrolle über die Kirche sei biblisch und Unterordnung unter den Papst unerlässlich für eine effektive Regierung. Luther antwortete Anfang 1520 mit Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig. In dieser Schrift führt er mehrere Gründe an, warum Rom als der Antichristus angesehen werden kann. „Es heißt, dass der Antichrist die irdischen Reichtümer finden wird“, schrieb Luther und fuhr fort, die „unleidlichen römischen Diebe“ würden ihren Reichtum in der Ausbeutung der Deutschen finden, wobei er den nach seinen Angaben römischen Spruch zitiert: „Quetscht das Gold aus den deutschen Narren, wie immer ihr könnt.“ (Works of Martin Luther With Introductions and Notes, Holman & Castle, 1:343)

Mazzolini behauptete, der Papst sei auch dann nicht absetzbar, wenn er „die Völker scharenweise dem Teufel zuführte“.

Luther wandte sich dann der Frage päpstlicher Unfehlbarkeit zu. Nach der Feststellung, er sei willens, alle Erlasse des Papstes anzunehmen, wenn er sie zuvor nach der Bibel geprüft habe, wies er im Gegensatz dazu auf die Haltung der „römischen Schurken“ hin, die den Papst „über Christus“ stellten, zum „Richter der Schrift“ machten und unfehlbar nannten. Wenn der Papst erwarte, dass Christen an etwas Sichtbares (ihn selbst) glauben statt an das Unsichtbare, war Luthers Schluss, „so sage ich geradheraus, dass er der rechte Antichrist sei“ (S. 391f.). Beachten wir, dass Luther in keiner dieser Aussagen den Papst oder das Papsttum direkt als Antichristus bezeichnet, sondern auf die Möglichkeit hinweist.

Die zweite Quelle, die Luthers Hemmungen schwächte, den Papst öffentlich zum Antichristus zu erklären, war Mazzolinis zweites Traktat gegen Luthers Lehren. In Wiederholung seiner früheren Argumente, der Papst habe größere Autorität als die Schrift oder Kirchenkonzile, zitierte Mazzolini einen Abschnitt aus dem kanonischen Recht, der Luther entsetzte: Der Papst sei „auch dann nicht absetzbar, ‚wenn er solch ein Ärgernis erregen würde, dass er die Völker scharenweise mit sich … dem Teufel in der Hölle zuführte‘“ (Oberman, 58).

An den christlichen Adel

Jetzt begann Luthers Feder zu fliegen. Zuerst ging am 13. Juni 1520 An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung in den Druck. Schon auf den ersten Seiten dieser Schrift, die das Papsttum wiederholt mit dem Antichristus in Verbindung bringt, reagierte Luther auf Mazzolinis abscheuliche Aussage:

Auf diesen verfluchten, teuflischen Grund bauen sie zu Rom und meinen, man solle eher alle Welt zum Teufel lassen fahren, als ihrer Schurkerei widerstreben … [Es ist] zu besorgen [fürchten], es sei des Endchrists [Antichristus] oder seines nächsten Vorläufers Spiel. (Kurt Aland [Hg.], Luther Deutsch, 2:164f.)

Luther schlug dann vor, ein freies Kirchenkonzil einzuberufen, und sagte, wenn der Papst versuchen würde, das zu blockieren, würde er die Erbauung der Kirche behindern, im Widerspruch zu 2. Korinther 10,8, dessen Inhalt Luther mit den Worten wiedergab: „Gott hat uns Gewalt gegeben, die Christenheit nicht zu verderben, sondern zu bessern.“ Er fuhr fort:

Des Teufels und Endchrists Gewalt ists, die da dem wehret, was zur Besserung der Christenheit dienet. (S. 169)

Würde der Papst die Macht beanspruchen, „die Schrift durch lauter Gewalt ohne Kunst auszulegen“, wäre das nach Luther – wie das Bemühen, ein Kirchenkonzil zu verhindern oder zu dominieren – Beweis, dass das Papsttum „wahrhaftig des Endchrists und Teufels Gemeinschaft“ ist (S. 170).

Luther zitierte Christi Warnung in Matthäus 24 vor falschen Propheten, die die Auserwählten täuschen, und meinte, Wunder seien kein Beweis päpstlicher Autorität, denn 2. Thessalonicher 2,9 sage vorher, dass der Antichristus Menschen durch Satans Macht verführen würde.

Er brandmarkte den päpstlichen Machtanspruch über irdische Obrigkeiten und sogar über Engel als „die rechten Werke des rechten Antichristen“. Er erinnerte seine Leser an Jesu Wort, sein Reich sei nicht „von dieser Welt“, und stellte klar: „Keines Stellvertreters Regierung kann weitergehen als die seines Herrn.“ Diese „vermessenen“ Ansprüche seien teuflisch ersonnene Schliche, um dem Antichristus den Weg zu bereiten und „den Papst über Gott zu setzen, wie es viele bereits tun“ (Works of Martin Luther, 2:81, 108f.).

Die Nachricht, der Papst habe den Bischof von Straßburg daran gehindert, in seiner Diözese eine Sittenreform durchzuführen, kommentierte Luther mit den Worten:

So sollen Priester gegen ihren eigenen Bischof aufgewiegelt und ihr Ungehorsam gegen das göttliche Gesetz geschützt werden! Ich hoffe, selbst der Antichristus wird nicht wagen, Gott so offen der Schande auszusetzen. (S. 90)

Luther sprach dann über die Verdorbenheit und Unmoral in Rom:

Es gibt Kaufen, Verkaufen, Tauschen, Handeln, Feilschen, Lügen, Betrügen, Rauben, Stehlen, Luxus, Hurerei, Schurkerei und jede Art der Gottesverachtung, und selbst des Antichristen Regiment könnte nicht ungeheuerlicher sein. (S. 95)

Er beklagte auch, dass päpstliche Legaten Geld nahmen, um „unrechten Gewinn zu rechtfertigen“ und „Eide, Gelübde und Verträge aufzulösen“ mit der Begründung: „Der Papst hat die Autorität dazu.“ Das allein, so Luther, sei genug „Beweis, dass der Papst der rechte Antichrist ist“ (S. 138). Indem er gegen Geld einen Schwur annulliere, stürze der Papst „Gottes Gebot“ und setze „sein eigenes Gebot darüber“. Er fügte hinzu:

Wenn er nicht der Antichristus ist, so sage man mir, wer sonst es sein kann!“ (S. 140)

Trotz allem hielt Luther am Schluss Papst Leo X. den Olivenzweig hin, indem er ausdrückte, er streite nicht gegen den Papst, sondern die römische Kurie, die nach seinen Worten unleugbar verdorbener war als selbst Babylon oder Sodom.

Babylonische Gefangenschaft

Im August erfuhr Luther, dass eine Bulle von Leo mit der Androhung des Kirchenausschlusses zu ihm unterwegs war. Damit, so stellt Richard Marius fest, „verließ ihn jeder Zweifel bezüglich des Antichristus. Für ihn war der Papst das Tier, der im Neuen Testament vorausgesagte Mensch der Bosheit, und ein Kompromiss war unmöglich.“ (Richard Marius, Martin Luther: The Christian Between God and the Devil, 248)

Als Luther erfuhr, dass eine päpstliche Bulle unterwegs sei, verließ ihn der letzte Zweifel.

Nun veröffentlichte Luther Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, worin er dem Papsttum vorwarf, die Kirchenglieder in eine neue Gefangenschaft zu führen. Denen, die behaupteten, der Papst habe „Gewalt, Gesetze zu erlassen“, entgegnete Luther:

Solange sie nicht ihre Gesetze aufgeben und den Gemeinden Christi ihre Freiheit wiedergeben, sind sie aller Seelen schuldig, die in dieser … Gefangenschaft umkommen, und das Papsttum ist wahrhaftig das Reich Babylons, ja, des Antichristen selbst. (Works of Martin Luther, 2:234-6)

Die Abhandlung gab zwei weitere Gründe an, das Papsttum als Antichristus zu bezeichnen. Erstens hatte es die Sakramente verfälscht, weil es den Abendmahlskelch den Laien vorenthielt und „mit der Bosheit des Antichristen“ die Forderung als Häresie verurteilte, Laien sollten den Kelch ebenso erhalten wie das Brot (S. 236, 247). Der zweite Grund war die Annullierung einer gültigen Ehe, worüber Luther äußerte:

Ich bin erbost über die dreiste Gottlosigkeit, die so bereitwillig scheidet, was Gott zusammengefügt hat, dass man darin gut den Antichristen riechen kann, der allem widersteht, was Christus getan und gelehrt hat. Welchen irdischen Grund gibt es dafür zu sagen, kein Verwandter (selbst des vierten Grades) eines verstorbenen Ehegatten dürfe dessen Witwe heiraten? (S. 268)

Luther schrieb in diesem Jahr noch drei weitere Traktate, die Papsttum und Antichristus zusammenbrachten. In seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen brandmarkte Luther die „seelenzerstörenden Traditionen unserer Päpste“ als „Schlingen“, durch die „zahllose Seelen in die Hölle hinabgezerrt“ worden seien, was eindeutig „das Werk des Antichristen“ sei (S. 346).

„Der Papst hat nicht einer Haaresbreite Macht zu ändern, was Christus gemacht hat.“

In der Abhandlung über Meineid widmete er sich einmal mehr Roms antichristlicher Ausbeutung „deutscher Narren“, während er in seiner Schrift über das Neue Testament mit Blick auf die päpstliche Verweigerung des Kelches für Laien meinte:

Der Papst … hat nicht einer Haaresbreite Macht zu ändern, was Christus gemacht hat, und was immer er von diesen ändert, … tut er als Tyrann und Antichrist. (1:50; 1:320-2)

Luthers Antwort auf die Bulle

Die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine, vorwiegend das Werk von Eck, Cajetan und Mazzolini, verurteilte 44 der veröffentlichten Aussagen Luthers als „giftig, anstößig, für fromme und schlichte Gemüter irreführend, lieblos, entgegen aller Ehrerbietung für die heilige römische Kirche, die Mutter der Gläubigen und Herrin des Glaubens“. Sie verdammte jeden, der diese Ansichten vertrat oder verteidigte, und forderte Luther auf, sich innerhalb von 60 Tagen zurück „in den Schoß der Kirche“ zu begeben. Derweil habe er zu schweigen, und seine Bücher seien zu verbrennen (Luther’s Works, 32:ix, x). Luther verbrannte die Bulle nach ihrer Ankunft am 10. Dezember 1520 zusammen mit Büchern des Kirchenrechts. Leo X. unterzeichnete die eigentliche Bannbulle mit Luthers Exkommunikation am 3. Januar 1521, die aus verschiedenen Gründen allerdings erst sehr viel später zugestellt wurde.

Der Papst erwartete, seine Verdammung Luthers würde automatisch zu dessen weltlicher Verurteilung und wahrscheinlich Hinrichtung führen. Kaiser Maximilian I. hatte vor seinem Tod Leo zugesagt, jedes päpstliche Verdikt gegen Luther durchzusetzen. Am 18. Januar 1521 forderte Leo Maximilians Nachfolger Karl V. auf, ebenso zu verfahren. Anschließend bemühte sich der päpstliche Abgesandte Hieronymus Aleander, zuerst Karl und dann den Reichstag in Worms davon zu überzeugen, Luther ohne Anhörung einfach zu verurteilen.

Inzwischen schrieb Luther in Grund und Ursache aller Artikel als Erwiderung auf die Anklagen in Exsurge Domine: „Hütet euch vor dem Antichristen, dem Papst!“ (S. 42) Er argumentierte, Christus sei der Fels aus Matthäus 16,18, und es sei eine Verdrehung von Gottes Wort, den Vers zur Begründung päpstlicher Autorität heranzuziehen. Dies, so Luther weiter, bestätige Paulus’ Ankündigung, die Ankunft des Antichristus würde mit Betrug und falscher Schriftauslegung einhergehen. In diesem Traktat nannte er den Papst auch deswegen Antichristus, weil er die Leute durch Ablässe in falscher Sicherheit wiege, weil er den Glauben als Bedingung für Sündenvergebung leugne, weil er weltweit Irrtümer verbreite, um im Gegenzug „den Reichtum der Völker zu erlangen, und weil er die Menschen unter ein System von ‚Buße, Beichte und Sühne‘ gebracht hat“ (S. 47).

„Christus lädt uns ein, der Papst zwingt uns.“

Zurück beim Thema Abendmahl, meinte Luther, Jesus habe jedem Brot und Wein gereicht und jeden aufgefordert, diese Handlung zu seinem Gedächtnis zu wiederholen, während der Papst bloß ein halbes Sakrament anbiete, weil er einige vom Abendmahl ausschließe. An Leo gewandt, bot Luther seinen Widerruf an, sollte der Papst beweisen können, dass er nicht unter dem Fluch Gottes stehe, der nach Paulus jeden treffe, der die Anordnungen oder das Evangelium verändere. Solange er das nicht zeigen könne, solle der Papst nicht Anstoß daran nehmen, wenn Luther ihn Antichristus nenne. Überdies lade uns Christus zur Teilnahme bloß ein, während „der Papst … uns zwingt, einmal im Jahr zum Sakrament zu gehen“. Daher „ist er in seinen Geboten wie in seinen Verboten das ganze Gegenteil von Christus, wie es einem wahren Antichristus geziemt“ (Works of Martin Luther, 3:73). Dies spiegle eine generelle päpstliche Tendenz wider, Christen an „menschengemachte Gesetze“ zu binden, während „dieser unerhörte Antichrist zu Rom“ mit Gottes Wort umgehe, „als sei es ein Karnevalswitz“ (S. 94).

Nach zwei Verdammungen aus päpstlicher Feder war Luthers Leben in Gefahr.

Eine Aussage Luthers, die Leo in Exsurge Domine verdammt hatte, war: „Das Verbrennen von Ketzern widerspricht dem Willen des Heiligen Geistes.“ Luther erwiderte, Papstanhänger hätten die „guten Christen“ Jan Hus und Hieronymus von Prag verbrannt, und „der Papst und andere Ketzerjäger haben andere gute Christen verbrannt“, einschließlich „des frommen Mannes aus Florenz … Girolamo Savonarola“, eine „Erfüllung der Weissagung über den Antichrist, dass er Christen in den Ofen werfen wird“ (Luther’s Works, 32:82, 87f.). Im selben Büchlein verurteilte Luther auch „den Irrtum vom freien Willen“ als „eine besondere Lehre des Antichristen“ (Works of Martin Luther, 3:111) und prangerte die Gründung von Bettelorden als eine List des Antichristus zur Vergrößerung seiner Macht an.

Worms und Wartburg (1521)

Nach zwei Verdammungen aus päpstlicher Feder war Luthers Leben ohne Zweifel in Gefahr. Trotzdem wehrte sich Luther gegen Ulrich von Huttens Vorschlag, den neuen Glauben militärisch zu verteidigen. Obwohl er fest damit rechnete, sein Leben zu verlieren, lehnte er es bei seinem Auftritt vor dem Reichstag zu Worms mutig ab, irgendetwas aus seinen Schriften zu widerrufen, solange er nicht aus der Schrift oder aus Vernunftgründen eines Besseren belehrt würde. Nun wurde er als vogelfrei erklärt. Dem Eingreifen Friedrichs von Sachsen war es zu verdanken, dass er trotz Reichsacht überlebte.

Auch in seiner Schutzhaft auf der Wartburg bezeichnete er das Papsttum als Antichristus:

Der heilige Paulus nennt den Antichrist den Menschen der Sünde und den Sohn des Verderbens, weil er durch seine Vorschriften und Gebote alle Welt von Gott abwenden und verhindern würde, dass Gott und die Welt zusammenkämen. Er sollte ein Meister der Sünde und aller Bosheit sein, dabei aber den Namen und Schein Christi beibehalten und sich Sanctissimus [Heiligster] und Vicarius Dei [Stellvertreter Gottes] und Caput Ecclesiae [Haupt der Kirche] nennen und alle verfolgen, die ihm nicht gehorchten. Es ist leicht zu erkennen, dass diese Beschreibung auf den Papst mehr als zutrifft. (S. 368)

Dann gab Luther einen neuen Grund dafür an, warum der Papst Antichristus zu nennen sei, nämlich dass er dem Klerus das Recht zu heiraten vorenthalte. Diesen Punkt sollte er zukünftig häufig anführen. Luther erwähnte mitfühlend „die arme Herde gefallener Priester“ und sagte:

Hätte der Papst kein anderes Elend aufgebracht als nur das Eheverbot, wäre es genug, ihm den Stempel Antichrist zu geben, zu Recht genannt der Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens und der Gräuel, so viel Sünde und Verderben sind aus diesem einen Gebot erwachsen. (S. 388)

Gottes Platz an sich reißen

Als die Krise vorüber war und Luther sich unter Friedrichs Schutz einigermaßen sicher fühlen konnte, milderte er seine Titulierung des Papstes als Antichristus nicht ab. Vielmehr erweiterte und untermauerte er seine Position. Natürlich gab es keine absolute Sicherheit für ihn. Leos Nachfolger Hadrian VI. warnte Friedrich, Kirche und Staat würden gemeinsam sowohl irdische Bestrafung als auch ewige Qual über ihn bringen, sollte er sich nicht von Martin Luther trennen „und seiner gotteslästerlichen Zunge einen Maulkorb anlegen“. „Tue also Buße“, sagte er, „bevor du die zwei Schwerter zu spüren bekommst.“ Später, im Jahr 1530, gab Papst Klemens VII. ausdrücklich Order an Kaiser Karl V., „die evangelischen Ketzer auszurotten“ (Roland Bainton, Here I Stand: A Life of Martin Luther, 250).

Der Hauptgrund, warum der reife Luther den Papst Antichristus nannte, war Luthers Überzeugung, der Papst reiße Gottes Platz als Gesetzgeber an sich, indem er den biblischen Ordnungen seine eigenen hinzufüge, das Gewissen mit menschlichen Überlieferungen beschwere, die christliche Freiheit beschränke und als Sünde erkläre, was Christus als keine Sünde erklärt habe, einschließlich der Heirat von Geistlichen. Luther formulierte sogar, der Papst habe die Schrift abgesetzt und seine eigenen Gesetze eingesetzt, sich zum Richter über Gottes Wort gemacht und Dekrete erlassen, die der Schrift widersprechen; er würde die Texte aufheben, die uns Sündenvergebung zusichern, er würde Christi Worte verdrehen, die Schrift falsch auslegen, biblische Anweisungen verwässern und den Menschen ein falsches Gottesbild vermitteln. Statt Christi Schafe zu weiden, so Luther, lehre und tue der Papst genau das Gegenteil von dem, was Christus gelebt und gelehrt habe.

Als ein Beispiel dafür, wie der Papst sich an Gottes Stelle dränge, gab Luther die Lehre an, die Schrift erhalte ihre Autorität von der Kirche und nicht umgekehrt. Ein anderes Beispiel sei der Machtanspruch nicht nur über die Kirche, sondern über die ganze Welt, wobei der Papst zwar jeden richtet, selbst aber von niemandem gerichtet werden darf. Dass der Papst göttliche Vorrechte für sich beanspruche, sei ein „Leugnen und völliges Begraben des Amtes und der Göttlichkeit Christi“, der niemals „gewollt hat, dass der Papst die ganze Welt beherrscht“ (Luther’s Works, Bd. 22, S. 82; 27:342; 29:42; 13:281f.; 14:12f.). Sowohl aus der Bibel als auch der Geschichte zeigte Luther, dass zur Zeit des Konzils von Nicäa weder Petrus noch der Bischof von Rom über alle Welt regiert hatten.

„Die falsche Kirche verfolgt immer die wahre Kirche.“

Exkommunikation und Verfolgung derer, die Gottes Wort befolgten, war laut Luther ein weiterer Punkt, wie der Papst sich Gottes Autorität anmaße. „Die falsche Kirche ist immer der Verfolger der wahren Kirche, nicht nur geistlich … sondern auch körperlich, durch Schwert und Tyrannei“, meinte er und erklärte, die Bibel habe vorhergesagt, dass der Antichristus „die tötet, die sich an das Wort halten“ (24:308; 2:34, 101, 214, 316; 22:61).

Im Mittelpunkt von Luthers Verständnis des Papstes als Antichristus, der sich an Gottes Stelle drängt, stand 2. Thessalonicher 2,3.4. Luther stellte fest, dass der Böse in 2. Thessalonicher 2 in Gottes Tempel sitzt und sich über Gott erhebt, und sagte: „Der Antichrist hat in der Kirche Platz genommen, allerdings nicht, um sie mit göttlichen Gesetzen, Verheißungen und Gnade zu regieren“, sondern mit „seinen sinn- und zahllosen Gesetzen und gänzlich unnützen Traditionen“ (8:283). Luther verband diesen Abschnitt mit Matthäus 15,3:

Paulus sagt den Thessalonichern (2Thess 2,4), dass der Antichrist sich ‚über alles erhebt, was Gott oder Gegenstand der Verehrung heißt‘ – sicherlich anhand seiner selbsterfundenen Heiligkeit. Christus bezeugt den Juden in Matthäus 15,3, dass sie die Gebote Gottes übertreten, um menschliche Überlieferungen einzuhalten. Das Gleiche sehen wir im schädlichen Klosterleben und in heiligen Orden. Dort finden wir Fasten, Feiertage, Liegen in harten Betten, Wachen, Schweigen, Tragen von rauer Kleidung, Tonsuren und Eingeschlossensein in Zellen, Unverheiratetsein – und nichts von alledem hat Gott geboten. (20:264)

Statt sich Gott zu unterstellen, erhöhe sich der Antichristus „über Gottes Wort und Anbetung“ und mache sich so „zum Richter über Gott“ (13:178, 190f.; 41:364).

Bedeutsam für Luthers Sichtweise vom Papsttum als Antichristus, der sich Gottes Vorrechte anmaßt, waren auch die Prophezeiungen aus Daniel, Matthäus und der Offenbarung. Luther interpretierte Daniel 2 und 7 als die Darstellung vier großer Reiche mit dem Römischen Reich als Höhepunkt, das geteilt werden sollte, bevor der Antichristus aufkäme. Seine eigene Generation, so glaubte er, werde durch die Zehen von Daniels Standbild symbolisiert. Das kleine Horn, das aus dem Römischen Reich entsteht, deutete er als päpstlichen Antichristus. Womöglich dachte er dabei an die Weissagung, das kleine Horn werde „danach trachten, Festzeiten und Gesetz zu ändern“ (Dan 7,25), denn er hatte ja schon ausgeführt, dass der Papst nicht die Macht habe zu ändern, was Christus aufgestellt hat.

Luther glaubte, Daniel 8, 11 und 12 enthielten mehrschichtige Vorhersagen, die sowohl auf Antiochus als auch den Antichristus zuträfen. Er deutete Daniels Weissagung von einem Herrscher, der „sich erheben und sich groß machen wird gegen jeden Gott und gegen den Gott der Götter unerhörte Reden führen“ und nicht „auf den Schatz der Frauen achten“ wird (Dan 11,36.37) als Hinweis auf das Papsttum, weil der Papst dem Klerus die Ehe verbiete und Gehorsam gegenüber sich selbst und seinen Regeln verlange statt gegenüber Gottes Anweisungen.

In Anspielung auf Daniel 9,27 und 12,11 erwähnt Jesus in Matthäus 24,15 den „Gräuel der Verwüstung“, von dem der Prophet Daniel gesprochen habe. Mit Bezug auf die Drohung des Papstes, alle seine Gegner zu verbrennen, lautete Luthers Interpretation dieses Textes:

Der Papst ist ein Gott auf Erden über alles Himmlische, Irdische, Geistliche und Weltliche, und zwar ganz allein. Niemand darf zu ihm sagen: „Was tust du?“ Das ist der Gräuel und Gestank, von dem Christus in Matthäus 24 spricht. (31:393)

An anderen Stellen, wo er denselben Text auf das Papsttum anwendet, sagt Luther: „Das verwüstende Sakrileg steht im Heiligen … und herrscht über uns an Christi Statt“. „Er hat sein eigenes Gesetz an die Stelle von Gottes Gesetz gerückt und sein eigenes Priestertum an die Stelle von Christi Priestertum und so ein Gräuel ins Heilige gebracht.“ (36:138, 218)

Vorhersagen über den Antichristus fand Luther auch in der Offenbarung, besonders in den Kapiteln 13 und 17: In Offenbarung 13 war er das lammähnliche Tier, das „christlich“ erscheint, aber „wie der Teufel“ redet und die Lehren „des Drachen aus der Hölle“ predigt. Der Papst habe Christi Rolle als Hohepriester an sich gerissen und seinen eigenen Klerus gegründet, so Luther; er behaupte, „ihren Seelen ein untilgbares Prägemal zu geben“, würde ihnen tatsächlich aber „das Malzeichen des Tieres aus der Offenbarung“ aufdrücken (S. 201).

Luther sprach von Rom als „scharlachroter Mörderin“.

Gemäß der Symbolik aus Offenbarung 14, 17 und 18 nannte Luther Rom oft Babylon und die „scharlachrote Hure Babylon“, manchmal auch in Abhandlungen über die päpstliche Verfolgung Andersgläubiger. In Erinnerung an den Versuch, ihn „als Gefangenen in das mörderische Jerusalem, jenes in Purpur gekleidete Babylon zu führen“, sprach Luther von Rom als „scharlachroter Mörderin“. „Dieses Babylon in Rom verbrennt Christi Kinder“, erklärte er und „lobte und dankte“ dem Herrn für seine Rettung vor der „Hure in Scharlach“ (39:102; 52:89; 48:109; 32:89; 41:206; 13:327; 35:402)

Christi Opfer außer Kraft gesetzt

Der römische Antichristus maßte sich nach Luther nicht nur Gottes Vorrechte an und verfolgte sein Volk, sondern setzte auch Christi Opfer und Mittlerdienst praktisch außer Kraft. „Der Antichrist … hebt die Gnade auf und leugnet die Segnungen Christi, unseres Hohepriesters, der sich selbst als Opfer für unsere Sünden gab“, sagte er (26:180). Dies geschehe unter anderem durch die Lehre von den Verdiensten. Dazu Luther:

Der verderbliche Gedanke unserer eigenen Gerechtigkeit … war der Grund, warum wir Christus gar nicht als Mittler und Heiland erkennen konnten, sondern einfach meinten, er sei ein strenger Richter, der durch unsere Werke besänftigt werden müsse. Dies war die äußerste Blasphemie gegen Christus und … machte Gottes Gnade zunichte, ließ Christus vergeblich sterben … Und das ist … das „verwüstende Sakrileg, das an heiligem Orte steht“ (Mt 24,15). (S. 200f.)

Die Lehre, Mönche könnten durch „ihre geheuchelte Heiligkeit“ gerechtfertigt werden, „obgleich es allein Christi rechtes Amt ist, den Sünder zu rechtfertigen“, war nach Luther „die Verneinung und vollständige Verdrängung des Werkes Christi und seiner Göttlichkeit“. Die Lästerung auf der Stirn der scharlachroten Hure deutete er auf „die vielfältigen, unzähligen, selbsterwählten Werke und Formen der Anbetung“, die „als Opfer“ dargestellt würden, „um Christi Opfer auszublenden“. Luther erklärte:

Der Hauptartikel christlicher Lehre ist … dass Christus unsere Gerechtigkeit ist. Wer nun dies bestreitet, nimmt den ganzen Christus weg und ist der wahre Antichristus. (S. 259; 13:327: 30:252)

„Es ist, als sei Christi Opfer ohne Gültigkeit und Wert.“

Luther meinte, das Papsttum hebe zudem Christi Opfer auf, indem es die Messe als „Opfer für die Lebenden und die Toten“ zur Erlangung von „Sündenvergebung“ verkünde. „Es ist, als hätte Christus ebendas nicht am Kreuz getan, als sei sein Opfer ohne Gültigkeit und Wert.“ Luther meinte, diese „täglich wiederholten Opfer“ würden „Christus fälschen“ und das zu tun vorgeben, „was allein Christus durch sein Opfer ein für alle Mal bewirkt hat“ (7:297; 13:313; 40:15).

Luther hob hervor, dass Christus noch immer unser einziger Mittler sei und die Schrift nichts von dem päpstlich eingerichteten Priestersystem anerkenne. Jesus sei von seinem hohepriesterlichen Amt weder zurückgetreten, noch habe er es dem Papst übertragen

Die Endzeit

Luther glaubte, dass die Bibel die Zukunft der Gemeinde vorhersagt, und meinte, das in Daniel 7,8-10 prophezeite Gericht würde in seiner Lebenszeit stattfinden. Er unterstrich, seine Lehren seien die „der alten und wahren Gemeinde zur Zeit der Apostel“, und war der Meinung, das kleine Horn würde dadurch gerichtet, dass „die ursprüngliche und alte Gemeinde einmal mehr hervorleuchtet (wie die Sonne hinter den Wolken hervorkommt, wo sie zwar geschienen hatte, aber nicht gesehen werden konnte)“. Er fand Trost in den Weissagungen, dass die letzten Tage „um der Auserwählten willen verkürzt“ würden und „dass die Gemeinde bewahrt und der Antichrist nicht alles mit Irrtum und Falschheit umgeben“ würde (24:367; 41:198; 2:229).

Er bemerkte, dass in der zweiten Engelsbotschaft aus Offenbarung 14 das Evangelium von einer Stimme gefolgt wird, die die Vernichtung des geistlichen Papsttums voraussagt. Dies sollte laut anderen Texten „ohne Menschenhand“ geschehen, mit dem Hauch des Mundes Christi, der ihn „mit geistlicher Predigt erschlagen“ würde, bevor er ihn „durch seine herrliche“ – und plötzliche – Wiederkunft auslöschte. Dann „werden jene, die entgegen dem Evangelium am Papsttum festhalten, außerhalb der Stadt Christi in die Kelter des Zornes Gottes geworfen“ (35:407f.; 39:279; 13:258; 24:366).

Luthers letztes Jahr

Die Intensität von Luthers Angriffen gegen das Papsttum nahm 1545, im letzten Jahr seines Lebens, noch zu. In diesem Jahr beschrieb er den Papst im Vorwort einer Sammelausgabe seiner kompletten Werke nicht nur als Antichristus, sondern auch als Stellvertreter des Teufels.

Seine letzte und heftigste Attacke Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet wurde auf Bitten des Kurfürsten Johann Friedrich verfasst. Es war eine Antwort auf zwei Briefe von Papst Paul III., die dem Kaiser untersagten, eine deutsche Nationalsynode zur Schlichtung der religiösen Dispute im Reich einzuberufen. Dreimal nennt Luther in dieser Schrift den Papst „den allerhöllischsten Vater“. Er beschuldigt ihn, ein „Lehrer aller Lügen, Gotteslästerung und Abgöttereien“ zu sein, „ein Mörder der Könige und Hetzer zu allerlei Blutvergießen, ein Hurenwirt über alle Hurenwirte und aller Unzucht“ – und sogar „ein rechter Werwolf“ (41:263f., 336, 357).

Dreimal nennt Luther den Papst „den allerhöllischsten Vater“.

Waren solche Vorwürfe unchristlich? Nicht für Luther. Er hatte schon zuvor bestritten, dass es Sünde sei, Satans „Beschimpfungen der Gottseligkeit und Gottes selbst“ zu widerlegen. Sie müssten, meinte er, „bloßgestellt und widerlegt“ werden, damit die Leute „berichtigt und von der Tyrannei Satans befreit werden“ könnten.

Paulus’ Angriffe gegen „die falschen Apostel“ waren keine üble Nachrede; er „richtete sie nach seiner apostolischen Vollmacht“. Ebenso urteile Luther, wenn er den Papst Antichristus nenne, „mit göttlicher Vollmacht“ auf der Grundlage von Galater 1,8.

Ungeachtet dessen lässt sich zeigen, dass Luther zwar antipäpstlich, aber nicht antikatholisch war. Er wehrte sich gegen das diktatorische, monarchische Bischofsamt als Kirchenoberhaupt, nicht aber gegen die Kirche selbst.

Zum Zeitpunkt von Luthers Tod hatten andere ebenfalls ihre Stimme erhoben und den Papst als Antichristus verkündet, darunter sein Freund und Anhänger Philipp Melanchthon und ein Mann, für den er nur wenig Respekt hatte: Ulrich Zwingli.

Viele Zeitgenossen und spätere Glaubensbekenntnisse teilten Luthers Standpunkt.

Weitere Zeitgenossen Luthers, die seine Überzeugung vom päpstlichen Antichristus teilten, waren z. B. Johannes Calvin, John Knox und Thomas Cranmer. Spätere Reformatoren mit dieser Ansicht waren der Wiedertäufer Menno Simons und diverse Theologen der Hugenotten. Selbst König Jakob I. von England mischte mit, indem er eine Auslegung der Offenbarung verfasste, die Rom als Sitz des Antichristus und Babylon bezeichnete. Viele richtungsweisende Glaubensbekenntnisse im Protestantismus wie die Konkordienformel, das Zweite Schottische Bekenntnis, das Bekenntnis von Westminster, die Savoyer Erklärung der kongregationalistischen Kirchen und das Baptistische Bekenntnis von 1688 wiederholten Luthers Standpunkt zu diesem Thema.

Schluss

Luthers Konflikt mit kirchlichen Amtsträgern aufgrund der finanziellen Ausbeutung seiner Gemeindeglieder durch Ablässe führte von päpstlicher Seite zu dem Bemühen, den frei denkenden Mönch zum Schweigen zu bringen. Erste Gedanken, das Papsttum könne der Antichristus sein, kamen auf, als dessen Repräsentanten, statt sich auf die Schrift zu berufen, die Muskeln spielen ließen, die Hinrichtung Andersdenkender befürworteten und – lange bevor es zum offiziellen Dogma wurde – Unfehlbarkeit für den Papst beanspruchten. Seiner Meinung sicher wurde er, als der Papst persönlich Luther mit Exkommunikation drohte, Regenten unter Druck setzte, sie sollten ihn mundtot machen, und die Auslöschung von Luthers Anhängern befahl.

Doch Luthers Theologie vom Antichristus war ebenso das Ergebnis von biblischer Analyse wie von eigenen Erlebnissen. Das theologische Hauptargument für Luthers Position war seine Überzeugung, der Papst dränge sich in vielfacher Hinsicht an Gottes Stelle und mache Christi Opfer zunichte.

Die Frage ist nicht, ob es politisch korrekt ist, sondern ob es biblisch korrekt ist.

Es ist keine Frage, dass Luthers Sicht nicht mehr politisch korrekt ist. Sie passt nicht zum Wir-Gefühl des 21. Jahrhunderts. Wenn wir allerdings in die vergangenen Jahrhunderte zurückschauen, wo so viele Stimmen furchtlos versicherten, das Papsttum sei der Antichristus, dann sollte die Frage für uns nicht sein, ob dieser Standpunkt unangenehm ist, ob er politisch korrekt oder gesellschaftlich akzeptabel ist. Die Frage sollte sein, ob er biblisch korrekt ist. Diese Sicht war auch in Luthers Tagen politisch nicht korrekt. Und zur Zeit Luthers konnte diese Meinung – im Gegensatz zu heute – buchstäblich fatale Folgen für die Betreffenden haben, so wie bei Jan Hus und Thomas Cranmer.

Geschichte
Reformation – auf einen Blick