Geschichte

Reformation und das Aufblühen der Wissenschaft


Antonella Pedley
M. A. in antiken Religionen

Die Eintrittskarten für die Veranstaltung in der Malmö Arena am 31. Oktober 2016 gingen weg wie warme Semmeln. Nein, es ging nicht um eine Übertragung von Eurovision oder ein fetziges Rockkonzert, sondern um einen ökumenischen Gottesdienst mit Papst Franziskus. Dieses besondere Ereignis war der Startschuss für ein Festjahr anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Reformation am 31. Oktober 2017, und es war insofern historisch, als zum ersten Mal in der Geschichte ein katholischer Papst an Festlichkeiten aus Anlass der protestantischen Reformation teilnahm.

Ein halbes Jahrtausend zuvor hatte Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt und damit den Beginn der Reformation markiert. Trotzdem muss man sich fragen: Wozu das ganze Feiern in unserem aufgeklärten Zeitalter der Wissenschaft, wo der Glaube besonders im Westen für viele kaum noch eine Rolle spielt? Schließlich, so heißt es, passen Bibel und Wissenschaft doch gar nicht zusammen, und das Christentum hat den wissenschaftlichen Fortschritt eher aufgehalten – oder etwa nicht?

Fachleute wissen seit Langem, dass der protestantischen Reformation ein nie dagewesener und explosiver Aufbruch der Naturphilosophie (wie die Wissenschaft damals hieß) folgte, den wir heute „die wissenschaftliche Revolution“ nennen. Aber gibt es zwischen diesen beiden Zwillingsrevolutionen eine Verbindung, oder stehen wir lediglich vor dem erstaunlichsten Zufall der Geschichte? Peter Harrison, ein anerkannter Fachmann für diese Thematik, sieht einen klaren Zusammenhang:

Es wird allgemein angenommen, dass die Menschen, als sie zu Beginn der Moderne die Welt mit neuen Augen betrachteten, nicht mehr daran glauben konnten, was sie in der Bibel lasen … Das Gegenteil ist der Fall: … Als die Leute im 16. Jahrhundert die Bibel mit neuen Augen lasen, sahen sie sich gezwungen, das traditionelle Weltbild über Bord zu werfen. Die Bibel – ihre Inhalte, die von ihr entfachten Streitfragen, ihr wechselhaftes Glück als Autorität und vor allem die neue Lesart der Protestanten – spielte für die Entstehung der Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert eine zentrale Rolle. (The Bible, Protestantism and the rise of natural science, 4f.)

Abschied von Aristoteles

Es war 6 Uhr morgens an einem Wintertag in Wittenberg und Zeit für die Psalm-Vorlesung des jungen Professors Martin Luther (die Leute standen damals früh auf). Als die Theologie-Studenten ihr brandneues Lehrbuch öffneten, ging ein erstauntes Raunen durchs Klassenzimmer. Dieses Psalmbuch war anders! Hatte der Drucker nicht aufgepasst? Der breite, normalerweise mit Kommentaren der Kirchenväter gespickte Rand neben dem biblischen Text war leer. Doch es war kein Fehler, sondern Absicht. Luther wollte, dass seine Studenten sich mit dem eigentlichen Wortlaut der Bibel beschäftigten, nicht mit der Tradition der Kirche.

Wenn es um die Interpretation der Heiligen Schrift ging, hatten bisher immer Tradition und die Aussagen der Kirchenkonzile das letzte Wort gesprochen. Sola scriptura – allein die Schrift – wurde zu einem Motto der Reformation. Für Luther und die anderen Reformatoren hatte kirchliche Autorität bei der Bibelauslegung kein Gewicht. Jeder Mensch, sagten sie, könne durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes selbst die wahre Bedeutung der Bibel erkennen. Nicht die Kirche, sondern die Heilige Schrift selbst sei der letzte Maßstab für die Auslegung. Die Worte der Schrift sowie der Heilige Geist hätten ihre eigene Überzeugungskraft für den Leser.

Indem die Reformatoren der Kirche das Recht absprachen, in Gewissensfragen zu bestimmen, schufen sie Raum dafür, auch in anderen Bereichen Fragen zu stellen. Denn nicht nur die Theologie, auch die Wissenschaft unterlag einer autoritativen Struktur. Die Naturphilosophie war der Autorität gelehrter Männer der Vergangenheit unterstellt: Aristoteles, Ptolemäus, Galenos und andere.

Die ersten Naturwissenschaftler bemerkten jedoch rasch, dass diese Denker sich in vielen Dingen getäuscht hatten. Zum Beispiel hatte man geglaubt, nur Himmelskörper würden von Natur aus einer Kreisbahn folgen, während irdische Objekte sich auf einer Geraden bewegten. Blut müsse darum rechteckig fließen. Der Reformator und Wissenschaftler Michael Servetus (1509 – 1553) stellte das Gegenteil fest. Er meinte, das Blut zirkuliere von der rechten Herzkammer durch die Lunge zur linken. William Harvey (1578 – 1657) verfolgte diese Idee weiter und konnte die Theorie des Blutkreislaufes experimentell nachweisen. Weil sie sich von dem Klammergriff althergebrachter Autorität befreite, konnte die Wissenschaft sich Bahn brechen.

Vor allem die Hochschulen, wo „allein der blinde, heidnische Meister Aristoteles regiert“, waren nach Luther reif für eine „gute, starke Reformation“ (An den christlichen Adel deutscher Nation, Punkt XXV). Besonders irreführend war Aristoteles’ Ansicht, der Verstand und die Sinne des Menschen seien absolut verlässlich. Nach seiner Auffassung bräuchte man bloß logisches Denken, Vernunft und natürliche Sinneseindrücke (ohne Hilfsmittel wie etwa ein Vergrößerungsglas), um die Wahrheit herauszufinden.

Die Reformatoren stellten das in Frage und schufen damit die Voraussetzung für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Methodik zur Erforschung der Natur. Die neuen Methoden beinhalteten einerseits den Einsatz von Apparaten wie dem Mikroskop oder Teleskop und andererseits die Überprüfbarkeit von Behauptungen durch wiederholte Experimente. Neue Erkenntnisse wurden in wissenschaftlichen Kreisen ausgetauscht, und nachfolgende Generationen konnten auf den Ergebnissen ihrer Vorgänger aufbauen. So sammelte sich mit der Zeit immer mehr Wissen an.

Allegorisch oder wörtlich?

Das Sola scriptura-Prinzip hatte noch eine weitere wesentliche Konsequenz. Wenn die Bibel Maßstab für Fragen des Gewissens war, dann war es von entscheidender Bedeutung, sie richtig zu verstehen. Zu Luthers Zeit wurde die Bibel nämlich auf eine Weise ausgelegt, die uns völlig fremd ist, nämlich anhand der „allegorischen Deutung“, einer Entwicklung der Kirchenväter. Danach war die Hauptbedeutung des Textes nicht die wörtliche, sondern die übertragene oder geistliche. Ein wildes Tier beispielsweise stand eigentlich für unbeherrschte Leidenschaften. Pflanzen und Tiere, Organe, Felsen, Naturerscheinungen, Planeten und Sterne und sogar Zahlen hatten alle eine geistliche Entsprechung. Mit der Zeit wurden diese Bedeutungen wie in einem Wörterbuch zusammengestellt.

Der fatale Siegeszug der allegorischen, aus der heidnischen Philosophie entlehnten Denkweise in der christlichen Kirche fand seine ersten Anfänge bereits in der Urgemeinde. Die ersten Christen lebten im Diesseits und hatten gleichzeitig die Hoffnung auf eine bessere, zukünftige Welt bei der Wiederkunft Christi. Die häretische Sekte der Gnostiker dagegen glaubte, diese Welt sei lediglich die Schöpfung eines geringeren Gottes, weswegen das Ziel des Lebens sei, dem bösen materiellen Bereich zu entfliehen und die spirituelle Sphäre des Himmlischen zu betreten. Diese Ideologie folgte dem dualistischen Weltbild des griechisch-heidnischen Philosophen Plato, der lehrte, die minderwertigen Dinge der materiellen Welt seien nur Abbilder von Dingen aus der besseren geistlichen Welt. Paradoxerweise wehrten sich die Kirchenväter gegen den Gnostizismus mit Argumenten, die ebenso auf dem Boden des Platonismus standen: Die materielle Welt sei zwar minderwertig, doch habe sie dennoch ihren Wert, weil sie als Hinweis auf die geistliche Sphäre und unsichtbare Welt diene.

Die Vorstellung, dass diese Welt und die Natur bloß Symbole für das Geistliche waren und dem Menschen höhere Wahrheiten veranschaulichten, prägte fortan die Art und Weise, wie Christen die Bibel verstanden. Den größten Beitrag dazu leistete der Kirchenvater Origenes, der im 3. Jahrhundert die allegorische Methode der Bibelauslegung einführte, die Augustinus von Hippo und andere weiterentwickelten. Sie beinhaltete, dass der biblische Text nicht wörtlich, sondern symbolisch zu lesen sei. Die Worte der Bibel durften nicht so aufgefasst werden, wie sie geschrieben standen, sondern sie deuteten auf Dinge hin, die wiederum zeichenhaft weiter in Richtung himmlische Realität wiesen. Die Folge war, dass der biblische Text unendlich viele Bedeutungen haben konnte und seine Autorität ganz in den Händen des geschickten Auslegers lag, der die biblische Lebenswelt genauso gut kennen musste wie das Geflecht bislang hergestellter Verknüpfungen.

Ab dem 12. Jahrhundert wurden die zwei Bücher der Natur und der Heiligen Schrift allegorisch gelesen. Da die Gegenstände in der Natur nur als Zeichen für geistliche Dinge fungierten, war es laut Augustinus sinnlos und sogar Götzendienst, die Natur zu erforschen. Vor der Zeit der Reformation konzentrierte sich das Studium der Natur im Wesentlichen auf die geistlichen Lehren, die sich der Tradition zu einem bestimmten Objekt entnehmen ließen. Wer zum Beispiel mehr über den Hasen wissen wollte, untersuchte die biblischen Erwähnungen, die Aussagen der Kirchenväter und Gedichte, Fabeln oder Epigramme über das Tier in der zeitgenössischen Literatur, wie die 1607 in London erschienene History of Four-footed Beasts [Geschichte der vierfüßigen Tiere] von Edward Topsell.

Der „Physiologus“

Ein anderes Beispiel ist der Pelikan; er wurde zu einem Symbol für Jesus Christus, und zwar aufgrund seines Eintrags in einem „allegorischen Wörterbuch“ mit dem Titel Physiologus, über das E. P. Evans bemerkte:

Neben der Bibel hat wohl kaum ein Buch über so viele Jahrhunderte unter so vielen Völkern so weite Verbreitung gefunden wie der Physiologus. Es gab Übersetzungen in Lateinisch, Äthiopisch, Arabisch, Armenisch, Syrisch, Anglosächsisch, Isländisch, Spanisch, Italienisch, Provenzalisch und allen wichtigen Dialekten der germanischen Sprachen. (Animal Symbolism in Ecclesiastical Architecture, 41)

Hier der Eintrag aus dem Physiologus:

Wenn der Pelikan Küken bekommt und die Kleinen wachsen, gewöhnen sie es sich an, ihre Eltern ins Gesicht zu treffen. Die Eltern schlagen zurück und töten ihre Jungen dabei. Dann ergreift sie das Mitleid, und sie beweinen sie drei Tage lang und trauern über die, die sie getötet haben. Am dritten Tag reißt die Mutter ihre Seite auf, und ihr Blut ergießt sich über die toten Leiber … und erweckt sie vom Tod. (S. vi)

In einer Welt, die besessen war von der geistlichen Dimension, waren die Gemeinsamkeiten bei der Beobachtung des Pelikans (wie fantastisch sie auch klingen mögen) und der Passion und Auferstehung Christi ausreichend, die Assoziation des Pelikans mit Jesus zu zementieren. Wer sollte es angesichts einer so heiligen Verbindung wagen, einen echten Pelikan anatomisch zu zerlegen und zu untersuchen? Die allegorische Methode der Bibelauslegung machte wissenschaftliche Forschung so gut wie unmöglich.

Der Weg der Reformatoren

Die Reformatoren wählten einen völlig anderen Ansatz der Bibelauslegung: Die Schrift sei in ihrer simplen, wörtlichen Bedeutung zu verstehen. Ein Baum war ein realer Baum und ein wildes Tier ebendies, es sei denn, der Zusammenhang erfordere klar eine symbolische Interpretation (wie zum Beispiel in Jesu Gleichnissen oder den Weissagungen in der Offenbarung – aber selbst dann blieb die Bibel ihr eigener Ausleger).

Die wörtliche Bibelauslegung schlug schnell auf die Art und Weise über, wie die Natur erforscht wurde. Der Pelikan wurde seiner traditionellen Assoziationen entledigt und konnte nun ungehindert von ethischen oder geistlichen Hemmschwellen untersucht werden. Wenn es wirklich einmal ein Paradies gab, das (nicht nur geistlich) verlorenging, dann konnte es durch die Erforschung der Natur zumindest teilweise auch wieder zurückgewonnen werden, etwa mithilfe verbesserter Anbaumethoden. Auch Gottes Anweisung an Adam und Eva bei der Schöpfung, über die Natur zu herrschen, war dann wörtlich zu verstehen und bedeutete, dass ihre Nachkommen in die Geheimnisse der Natur eindringen und so lernen sollten, wie sie gute Verwalter der Erde und ihrer Ressourcen sein können. Und weil der Sündenfall ebenso wörtlich war und die Sinne von der Sünde abgestumpft waren, konnte man menschlicher Vernunft und Wahrnehmung alleine nicht vertrauen. Aristoteles’ Vorstellungen (wie oben beschrieben) mussten einer neuen Wissenschaft weichen.

Der Wissenschaftler als Priester?

Zu guter Letzt traten die protestantischen Reformatoren für das Priestertum aller Gläubigen ein. Es besagte, dass man nicht Priester sein musste, um Zugang zu Gott und Sündenvergebung zu erlangen. Das Heil kam nicht durch die Kirche, sondern direkt von Gott zum Einzelnen. Jeder konnte sich durch Gebet und Bibelstudium Gott nähern.

Auch dieser „demokratische“ Ansatz hatte Auswirkungen auf die Welt der Wissenschaft: Jeder konnte ein Wissenschaftler sein. Und da die Reformatoren deutlich machten, dass ein aktives Leben viel besser sei als ein kontemplatives (wie ein Mönch im Kloster), war ein Wissenschaftler zu sein durchaus eine noble und sogar heilige Berufung. Mehr über Gott zu lernen, indem man die Geheimnisse der Natur erkundete, wurde zum Leitmotiv zahlreicher früher Forscher wie Johannes Kepler, Robert Boyle, Isaac Newton und vieler mehr. „Ich wollte eigentlich Theologe werden, und eine Zeit lang war ich deswegen beunruhigt, aber heute sehe ich, dass ich Gott auch durch meine Astronomie die Ehre geben kann“, bekannte Kepler, einer der Väter der modernen Astronomie. Es überrascht nicht, dass praktisch jeder Wissenschaftler jener Ära ein bibelgläubiger Christ war.

Im Licht dieser Tatsachen lässt sich kaum bestreiten, dass die Reformation zum Aufblühen der Naturwissenschaften beigetragen hat, sowohl durch ihre neuen Prinzipien und Ideale als auch durch die Schaffung einer für die wissenschaftliche Forschung günstigen Umgebung. Richtig verstanden, steht die Bibel nicht im Gegensatz zur Wissenschaft. Im nächsten Schritt könnte man sogar fragen, ob die heutige Wissenschaft erneut zu einem System akademischer Autorität und geliebter Wissenschaftsdogmen geworden ist, die um jeden Preis verteidigt werden. Braucht unsere Wissenschaft eine neue Reformation?

Francis Bacon (1561 – 1626), Vater des Empirismus und wie die meisten Wissenschaftler seiner Zeit ein gläubiger Christ, sagte einmal: „Es gibt keine … Feindschaft zwischen Gottes Worten und seinen Werken.“ Ich denke, er hatte Recht.

 

Dieser Artikel erschien in gekürzter Form zuerst in der schwedischen Zeitschrift LifeStyleVIEW, Nr. 3, 2016. Leicht bearbeitet.

Geschichte
Reformation – auf einen Blick